Abschnitt: Gesetzliche Grundlagen und Trägerschaft → Konzeptionsentwicklung: Reflexionsfragen zur Vernetzung im Sozialraum
 

Warum Kitas nicht zwingend Sozialunternehmen sind

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Was unter einem Sozialunternehmen bzw. einem sozialen Unternehmen verstanden werden könnte, ist nicht eindeutig (Christa, 2010). Nach den Vorstellungen des Erfinders der Sozialunternehmen, Muhammad Yunus (Nobelpreis 2006) handelt es sich um Unternehmen, bei denen die Anteilseigner/-innen keinen Gewinn machen, sondern nur das eingesetzte Kapital zurückerhalten. Gewinne werden reinvestiert.1 Dieses Modell könnte auch für Kitas in Frage kommen, findet tatsächlich aber keine Anwendung.

In den Verlautbarungen der EU sind Sozialunternehmen solche Unternehmen, die sich freiwillig verpflichten, auf eine bessere Gesellschaft und eine sauberere Umwelt hinzuwirken. Das macht jede Kita sowieso. Rechtsfolgen sind an den Begriff des EU-Sozialunternehmen nicht gebunden.

Eine freiwillige Sache ist auch die »Corporate Social Responsibility (CSR)«, die unternehmerische Gesellschaftsverantwortung. Danach soll es sich schon dann um ein Sozialunternehmen handeln, wenn es sich sozial gegenüber eigenen Mitarbeitern beziehungsweise Mitarbeiterinnen verhält, sich gemeinnützig engagiert oder soziale Ziele verfolgt. Andere sehen in »Sozialen Unternehmen« einen Sonderfall sozialer Wohlfahrtsorganisationen. Ihre Besonderheit besteht darin, Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung nicht sozialpolitisch, sondern sozialökonomisch anzugehen. Wieder andere begrenzen sie auf den zweiten2 und dritten3 Arbeitsmarkt.4

Soziale Dienstleistung

Wie die vorangehende Analyse zeigt, passt keine der üblichen Definitionen so recht auf die Kita. Zu vielfältig sind deren Erscheinungsformen. Allen gemein ist jedoch, dass sie in dem Sinn soziale Betriebe sind, als sie eine soziale Dienstleistung erbringen. Damit nicht genug stehen sie untereinander in einem wirtschaftlichen Wettbewerb, und zwar unabhängig davon, ob sie entgeltlich oder unentgeltlich tätig werden. Der Begriff der »Dienstleistung«5 umfasst jede Tätigkeit, die aufgrund eines Schuldverhältnisses erfolgt: Bei der Kita z.B. können die Eltern die Betreuung des Kindes von der Kita und die Kita von diesen die vereinbarten Beiträge verlangen.

EU-Dienstleistungsrichtlinie

Die EU-Dienstleistungsrichtlinie6 erfasst die sozialen Dienstleistungen und damit auch die Kitas. Ausgenommen ist nur diejenige »Kinderbetreuung …, die vom Staat, durch von ihm beauftragte Dienstleistungserbringer oder durch von ihm als gemeinnützig anerkannte Einrichtungen erbracht wird«, Art. 2 Abs. 2 Buchst. j EU-Dienstleistungsrichtlinie. Obgleich die Vorschrift mehrdeutig ist, erkennt man doch gleich, dass es sich dem Wesen nach um etwas handeln muss, das normalerweise vom Staat selbst erbracht wird. Das ist bei der Kinderbetreuung nicht notwendigerweise der Fall, da hier traditionsgemäß auch private, gemeinnützige und kirchliche Institutionen tätig werden. Nun könnte man u.U. vertreten, das deutsche Sozialsystem sei so gestaltet, dass in der Regel die Kommunen und – nach der Tendenz zum Gewährleistungsstaat – an deren Stelle freie und gemeinnützige Träger quasi im staatlichen Auftrag tätig würden. Aber auch dann kann nicht verneint werden, dass die Kinderbetreuung durch private Unternehmen, private Kindermädchen oder sonstige Kinderbetreuungsdienste der Dienstleistungsrichtlinie unterliegt. Genauso sieht es auch das offizielle Handbuch der EU zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie. Davon geht ein gewisser Druck zur Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung auch im Bereich der Kinderbetreuung einher.

Vorrang der Marktfreiheit

Die damit verbundenen Rechtsfolgen sind einigermaßen originell, vielleicht auch in Zukunft dramatisch. Private Kitas dürfen nicht schlechter gestellt werden als alle anderen. Sie können europarechtlich gesehen dieselbe Förderung beanspruchen und dürfen nicht dadurch abgeschreckt werden, dass ihnen die Aufnahme in einen Bedarfsplan verwehrt wird. Derartige Maßnahmen können möglicherweise Anbieter von Kitas den Marktzugang versperren, und das ist aus europäischer Sicht verboten. Noch ernster wird es, wenn man die Freie Wohlfahrtspflege in bestimmten Bereichen (wie der Kinderbetreuung) als Unternehmer/-in i.S.d. Art. 107 AEUV7 und deren Tätigkeit (mittels Untergliederungen in Vereinen und Gesellschaften) als wirtschaftliche Tätigkeit betrachtet (dazu Starke 2017). Dann werden die Ungleichbehandlung der Anbieter von Kitas und die Wettbewerbsverzerrung offensichtlich. Landesgesetze schließen durch besondere Gesetze die Förderung von privatwirtschaftlich organisierten Unternehmen aus.8 Wahrscheinlich rettet diese Praxis zurzeit noch, dass die sog. Inländerdiskriminierung europarechtlich erlaubt ist. Um sich gerichtlich auf die europarechtliche Gleichbehandlung zu berufen, bedarf es eines grenzüberschreitenden Umstandes.9 Der wird gegeben sein, sobald ein in einem anderen EU-Mitgliedsstaat ansässiges Unternehmen soziale Dienstleistungen (wie eben Kitas) in Deutschland anbietet.

Verhältnismäßigkeit

Wer sich auf die »zwingenden Gründe des Allgemeininteresses« verlässt, welche die EU-Dienstleistungsrichtlinie anbietet, sieht sich getäuscht. Diese sind in der Erwägung 40 der EU-Dienstleistungsrichtlinie genannt. Dazu gehören u.a.:

»öffentliche Ordnung, öffentliche Sicherheit und öffentliche Gesundheit …; Wahrung der gesellschaftlichen Ordnung; sozialpolitische Zielsetzungen; Schutz von Dienstleistungsempfängern; Verbraucherschutz; Schutz der Arbeitnehmer einschließlich des sozialen Schutzes von Arbeitnehmern … Erhaltung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit … Schutz der Umwelt und der städtischen Umwelt einschließlich der Stadt- und Raumplanung …; kulturpolitische Zielsetzungen einschließlich der Wahrung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, insbesondere im Hinblick auf soziale, kulturelle, religiöse und philosophische Werte der Gesellschaft; die Notwendigkeit, ein hohes Bildungsniveau zu gewährleisten; Wahrung der Pressevielfalt und Förderung der Nationalsprache; etc.«

Bevor jedoch diese Grundsätze anzuwenden sind, ist jeweils zu fragen, ob im konkreten Fall überhaupt ein Bedürfnis für die Einschränkung der Marktfreiheit (Dienst- der Niederlassungsleistungsfreiheit etc.) besteht. Allgemeine Befürchtungen für die Zukunft des Wohlergehens einer Gesellschaft, die sich schützen möchte, bleiben außen vor. Weiter ist zu prüfen, ob die Einschränkung überhaupt geeignet ist, das Schutzziel zu erreichen, und wenn ja, ob sie auch wirklich das »mildeste Mittel« darstellt, kurz gesagt, ob das mit der Einschränkung verfolgte Ziel nicht auch anderweit zu erreichen ist. Ein theoretisch mögliches Alternativverhalten darf natürlich nicht komplett unvernünftig sein. Im Prinzip sind damit zwar Argumentationen in alle Richtungen möglich, also für und gegen Einschränkungen, aber leider nur im Prinzip.

Letztentscheidungsrecht

Entscheidend ist in Fällen wie diesen, wer das Letztentscheidungsrecht hat. Das sind jedenfalls keine deutschen Gerichte, sondern allenfalls der Europäische Gerichtshof (EuGH) bzw. in wirtschaftlich bedeutenden Angelegenheiten das Streitschlichtungsgremium (Dispute Settlement Body, DSB) der Welthandelsorganisation WTO.

Der EuGH wird das »Interesse« (kein Recht!) an der Kinderbetreuung gegen das »Recht« auf freien Marktzugang gegeneinander abwägen. Dabei dürfte regelmäßig das Recht über das Interesse siegen. Nicht zu vergessen, dass selbst die geringste EU-Verwaltungsvorschrift auch Vorrang vor dem nationalen Verfassungsrecht hat.

Das Streitschlichtungsgremium der WTO, das an keine nationalstaatliche Verfassung gebunden ist, bildet den »worst-case«, weil der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union die Aushandlung und den Abschluss von Abkommen im Handel mit Dienstleistungen des Sozial-, des Bildungs- und des Gesundheitssektors ausschließlich der EU zuweist (Artikel 207 Absatz 4 Satz 3 AEUV). Als Mitglied der WTO ist die EU in diesen Fällen an die Satzung der WTO gebunden. Diese strebt die Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung aller Lebensbereiche an, die eine Rolle im wirtschaftlichen Wettbewerb spielen können und mit denen ein Gewinn zu erzielen ist. Außerdem sieht sie das Schiedsverfahren der WTO vor, falls ein Land seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Das Schiedsgericht kann Entschädigungssummen festsetzen, die den Jahreshaushalt eines Landes übersteigen.

Literatur

Christa, H. (2010): Grundwissen Sozio-Marketing. Konzeptionelle und strategische Grundlagen für soziale Organisationen, Wiesbaden, Reihe: Lehrbuch.

Seine Mikrokredite vergab er allerdings gegen bis zu 20 % Zinsen und die Rikscha-Fahrer, die sich damit eine Rikscha leisten konnten, sahen sich ihrer Existenz beraubt, als zur Erleichterung des Straßenverkehrs horrende Lizenzgebühren erhoben wurden.


Sozialbetriebe, die vorwiegend das Ziel der Integration von Langzeit beschäftigungslosen Personen in den sog. »ersten Arbeitsmarkt« anstreben.


Sozialbetriebe auf dem »3.Arbeitsmarkt« beschäftigen überwiegend Menschen mit intellektueller oder körperlicher Behinderung, oder Menschen mit psychischen Beeinträchtigen.


SOZIALwirtschaft aktuell 11/2018, 5.


FG BW, Urt. v. 09.05.2012 – 4 K 3278/11, JurionRS 2012, 15990 zu Fahrtkostenersatz als erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten, unentgeltlicher Betreuung und Aufwendungsersatz (auf der Grundlage von § 4f EStG a.F.; später § 9c Abs. 1 und 3 EStG a.F.; jetzt modifiziert in § 10 Abs. 1 Nr. 5 EStG n.F.); zur Nicht-Berücksichtigung der Kosten von Ferienreisen und Verpflegung als Betreuungsaufwendungen: FG Sachsen, Urt. v.07.01.2016 – 6 K 1546/13, SSP 3/2016, 1 und BFH, Beschl. v. 17.01.2017 – III B 20/16, JurionRS 2017, 2017, 12725; FG Thüringen, Urt. v. 25.10.2016 – 2 K 95/15, JurionRS 2016, 32956 m.w.N.: Gleichstellung unterschiedlicher Formen der Betreuungsangebote hinsichtlich der Kinderbetreuungskosten.


Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. EU v. 27.12.2006, L 376/36.


Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. EU v. 26.10.2012, C 326/49.


Beispiel: Niedersächsisches Gesetz zur Förderung der Freien Wohlfahrtspflege der (NWohlfFöG) v. 16.12.2014.


OVG NRW, Urt. v. 01.12.2014 – 12 A 2523/13, JurionRS 2014, 30709.


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